1. museum schaffen: Alle reden davon, dass die Digitalisierung die Arbeitswelt auf den Kopf stellt und alles anders wird. Was heisst das überhaupt?
Angelo Ciaramella: Wo soll man anfangen, wer beim Einkaufen ob Hauslieferung, Online-Bestellung oder mit dem Handy bezahlen mitmacht, oder sein Kinoticket, E-Banking oder Adressänderung online abwickelt kommt täglich mit der Digitalisierung in Berührung. und das ist erst der Anfang. Firmen rüsten teils radikal um von der Angebotspalette bis zur internen Datenverlagerung sind jegliche Bereiche betroffen und kommen unter den Digitalisierungshammer. Ganz abgesehen davon, dass selbstlernende Maschinen dazu kommen.Daraus ergeben sich zwangsläufig neue Arbeitswelten. neue Jobprofile und Fähigkeiten sind gefragt wie auch eine gänzlich andere Einstellung zur ‚Arbeitsverrichtung‘. Dies sind nur ein paar Punkte die es von Seiten HR zu beachten gilt.
2. Wenn du an die vergangenen zehn Jahre zurückdenkst, was hat sich auf dem Arbeitsmarkt sowie in der Rekrutierung tatsächlich verändert?
Von aussen betrachtet noch nicht sehr viel, wir haben noch Arbeitsverträge und das Arbeitnehmer/geber Prinzip. Suchen und Finden. Tatsächlich laufen diese Prozesse jedoch rudementär anders. Heute wird man gefunden. Die Transparenz und Verschmelzung von Firmeninternas und der eigenen Work Life Balance haben sich stark gewandelt. Mit der Talent Economy halten projektbezogenes Arbeiten, stete Optimierung und Restrukturierungen Einzug. Firmenkulturen und der Erfolg werden durchlässiger und die Aufgaben sowie Verantwortungsverteilung wird ersichtlicher. Dadurch kann auf allen Ebenen, von Kultur, Wirtschaftlichkeit, Struktur und psychologischen Grundsätzen, rascher gehandelt werden. Weniger ‚agile‘ Arbeitnehmer kommen so stärker unter Druck. Veränderungsbereitschaft ist heute Voraussetzung wie die bekannten Parameter ‚Belastbarkeit‘ oder ‚Flexibilität‘.
3. Werden wir es mit einem pechdüsterten Szenario zu tun haben mit Millionen von Arbeitslosen und gesellschaftlichen Verwerfungen oder mit der rosaroten Version, in der alle unliebsame Arbeit von Algorithmen und Robotern ausgeführt wird – etwa Kanalreinigungen – und wir uns wie im Schlaraffenland den schöneren Dingen widmen?Weder noch. Das Verschwinden von Arbeit ist Schwarzmalerei genauso wie die ewige Propaganda auf Kosten der älteren Arbeiterschaft. Wir werden keine Massenarbeitslosigkeit haben. Beweis dafür ist, dass seit Beginn der Digitalisierung, im pendant zur Industrialisierung von vor 100 Jahren, stets mehr statt weniger Arbeit geschaffen wurde. Zum zweiten der täglich grösser werdende Mangel an Fachkräften. All diese Studien vergessen oftmals die einfachste Prämisse: den handelnden Menschen. Statt dessen wird von Gesellschaften geredet. Aber auch das sind Menschen und diese werden nicht einfach untätig herum sitzen, ihr Schicksal abwarten und alle Gedanken einfach fallen lassen. Rosarot wirds ebenfalls nicht so schnell, denn seit Menschengedenken basiert ein erfülltes Dasein auf Leistung und Tun, nicht weil wir müssen sondern wollen. Die wenigsten können sich vorstellen nur noch am Pool zu liegen, von Robotern die Limo serviert bekommen und in den Tag zu sinnieren. Das ist schlicht (noch) nicht in unseren Genen. Dahinvegittieren macht unglücklich, daher wird der Mensch immer arbeiten wollen. Nur die Definition von Arbeit ändert sich bestimmt.
4. Was bedeutet Digitalisierung für die Arbeitgeber in der Rekrutierung? Muss man als Unternehmen «Mitmachen»? Wohin könnte das führen? Hast du ein Beispiel dafür?
Es ist kein Mitmachen, sondern schlicht selbstverständlich dass man mit der Zeit geht. Und das heisst konkret sich dem Markt stellen, eigene Prozesse anpassen, Dienstleistungsorientierung gross schreiben, neue Arbeitsformen und Begebenheiten wie Wertewandel annehmen. Dies sind alles natürliche Entwicklungen. Unter Mitmachen verstehe ich sich dem Zeitgeist stellen. Ein Restaurant ohne Online-Präsenz existiert quasi nicht mehr. Da stellt sich die Frage nach freiwilligem Mitmachen genauso wenig. Ein illustratives Beispiel ist auch Kodak: man verweigerte sich der Digitalfotografie und glaubte dies werde sich nie durchsetzen, daher wurde nicht „mitgemacht“, quasi die Realität verweigert und keine Innovation betrieben. Die Folge: innert Kürze ging das Unternehmen in den Konkurs. In der Rekrutierung ändert sich derzeit genau so vieles wie überall. Digitalisierung hiesst eben nicht bloss von der Postbewerbung zur Online-Bewerbung, sondern zieht auch ein Haltungswechsel mit sich. Ein Kandidat ist nicht mehr nur der potentielle Arbeiter um der Firma Profit zu bescheren, er ist auch Mensch mit Forderungen und Erwartungen. Geben und Nehmen erhalten eine andere Bedeutung. Firmen die hier nicht mitmachen, werden je länger je schwerer zu den benötigten Arbeitskräften kommen. Ganz grundsätzlich ist eine Verlagerung ins Netz und die Cloud aber auch in der Personalgewinnung unumgänglich.
5. Auf Seiten der Arbeitgeber scheint es im Recruiting in mancherlei Hinsicht noch zu hapern, wenn man nur an komplizierte Bewerbungsabläufe denkt, nicht vorhandene Ansprechpartner oder…
oder gänzlich im internen Verständnis der Wichtigkeit und Neuausrichtung der Personalgewinnung. Angefangen vom Verständnis in den Geschäftsleitungen. Oft herrscht dort noch ein faktisch antiquiertes Wissen vor das als Realität geglaubt wird. Sprich die Probleme rund um die Findung von gutem Personal ist teilweise völlig unbekannt. Aber auch einer strategischen Anbindung an die ganze Firmenausrichtung fehlt es oft, oder auch innerhalb der Personalabteilungen herrscht ein grosses Unwissen und Unsicherheit. Einiges ist schlicht auch den rasch ändernden Ansprüchen geschuldet. Oder anders gesagt: auch Menschen in den HR Abteilungen sind nur Menschen denen vieles zu schnell geht. So sitzen sich denn auch öfters Bewerber und HR im Gespräch gegenüber und reden wissentlich unwissentlich gemeinsam über „Digitalisierung“.Ein Berufskollege hat mal gesagt: wir alle reden von Agilität und Disruptivität, aber mehr als reden ist da nicht. Studien zeigen auch dass der Glaube man sei gewappnet für die angehenden Einschnitte trügerisch sind, nur wenige Firmen sind überzeugt davon, die meisten haben grosse Vorbehalte.
6. Wie werden Arbeitnehmende “digitaler”? Was ist wichtig, um den Anschluss auf dem Arbeitsmarkt nicht zu verlieren?
Derzeit kann man sagen hilft man sich schon sehr wenn man digitale Business-Netzwerke aktiv pflegt und vertreten ist, sich dort einbringt und die berufliche Vernetzung voran treibt. Dann sich überlegen mit was man sich von anderen abhebt und einzigartig macht. Generische Tätigkeiten und Profile konkurrieren sich mehr und mehr. Individualität hilft. Damit ist man noch nicht gleich digitaler. Am Beispiel von Marketing-Spezialisten zeigt sich: wer klassisches Marketing im Profil hat ohne Erfahrung mit Online-Marketing findet praktisch keinen Job mehr. Es ist gar anzunehmen dass Marketing-Profile zwecks grosser Arbeitslosigkeit unter die neue Reform der Stellenmeldepflicht fallen werden. Am Marketing-Profil lässt sich schön ableiten, dass man sich eigenverantwortlich in seinem Arbeitsgebiet fragen muss, was macht mich digitaler, wo habe ich Mängel und diesen beheben.
7. Deine Botschaft an Arbeitnehmende und Arbeitgeber?
Die Digitalisierung macht nicht halt. Gewinner und Verlierer gibt es immer aber Schuldige immer weniger. Denn gleichzeitig niemand und alle tragen dazu bei. Wer nicht «mitmacht» tut sich daher keinen Gefallen. Aktiv werden, die Eigenverantwortung gross Schreiben und niemals denken dass «Andere» es schon richten werden.
Dieses Interview ist erschienen in der Spezialausgabe des Magazins von „museum schaffen„. Das museum schaffen stellt den Menschen als Schaffenden in den Mittelpunkt. Es verhandelt ein Thema, das wie kaum ein zweites unseren Alltag prägt. Zum Thema „Arbeit 4.0“ hielt Angelo Ciaramella ein Gastreferat.
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